Gottesanbeterin

Blut spritze in alle Himmelsrichtungen.
Das Geräusch seiner brechenden Knochen ging unter in einem schweren, dumpfen Schlag, als Kai Winkelmanns lebloser Körper auf den Asphalt klatschte.
»Auf der Ruhrtalbrücke steht eine Person und droht zu springen«, dröhnte es aus dem Funkgerät.
Ein heftiger Adrenalinstoß schoss in Stefan Brauns Körper. Über Funk bestätigte er die Übernahme des Einsatzes und schaltete Blaulicht und Martinshorn ein. Mühsam kämpfte sich der grün-weiße Ford Scorpio durch den dichten Berufsverkehr, der hinter Kettwig bereits einen handfesten Stau entwickelt hatte. Eigentlich müsste Stefan versuchen möglichst unbemerkt bis zur Brücke vorzudringen. Aber dieses Vorhaben war aussichtslos. Aus der Ferne hörte er das Klingeln eines Telefons.
Dann konnte er die Szene sehen. Ein Mann stand direkt an der Brüstung und hielt seine ausgestreckten Arme weit über den Abgrund.
Stefan wartete nicht, bis der Streifenwagen zum Stillstand gekommen war, sondern sprang aus dem noch rollenden Auto auf die Fahrbahn. Beinahe hätte ihn der Schwung zu Boden gerissen. Das Klingeln des Telefons wurde lauter. Er stürzte auf den Mann an der Brüstung zu. Jetzt konnte er es erkennen. Es war Stefans klingelndes Handy, dass der Unbekannte über den Abgrund hielt. Stefan streckte die Arme aus. Der Unbekannte öffnete die Finger und ließ das laut klingelnde Funktelefon in die Tiefe stürzen. Stefan sprang hinterher und schlug hart auf dem Boden auf.
Schlagartig war Stefan Braun wach. Noch immer klingelte sein Handy. Jetzt realisierte er, dass das Klingeln nicht Bestandteil seines Traums war. Er griff neben sein Bett und bekam das Ladekabel zu fassen. Daran hangelte er sich entlang zu seinem Telefon. Er nahm es hoch, drückte auf die Taste mit dem grünen Hörersymbol und meldete sich verschlafen: »Braun hier.«
»Hallo Kollege«, kam es von der anderen Seite, »hier ist die Leitstelle. Bist du schon aufnahmefähig?«
»Was? Äh Moment.« Stefan Braun schüttelte seinen Kopf und richtete sich im Bett auf. Mit der Hand fingerte er nach der Nachttischlampe und schaltete sie ein. Das Licht blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und richtete sich weiter auf. »Ja. Jetzt geht’s wohl. Was ist passiert?«

Das Zucken des Blaulichts konnte Stefan quer über den Parkplatz hinter der König-Pilsener-Arena schon sehen. Der Streifenwagen stand vor der Bahnunterführung, quer auf der Fahrbahn. Stefan Braun hatte sich dagegen entschieden, erst zum Präsidium zu fahren, um einen Dienstwagen zu holen. Obwohl es bereits nach drei Uhr war, zeigte das Thermometer noch zweiundzwanzig Grad. Der warme Fahrtwind, der ihm auf dem Motorrad ins Gesicht blies war angenehm und weckte seinen Geist. Und das war um diese Uhrzeit auch bitter nötig. Jetzt steuerte er seine rote R 100 RS direkt auf das Polizeifahrzeug zu. Der Fahrer öffnete die Tür und stürzte Stefan mit winkenden Händen entgegen.
»Sie können hier nicht durch!«, rief er mit einem Tonfall der klar machte, dass er darüber nicht diskutieren würde. Stefan hielt an und klappte das Kinnteil seines Helms hoch.
»Moin Kollege. Stefan Braun von der Kripo Essen. Ich soll mir hier nen Tatort ansehen.«
Der Uniformierte sah Stefan skeptisch an, der in abgewetzter Lederjacke auf seiner mehr als dreißig Jahre alten Maschine saß.
»Moment, ich hol mal meinen Ausweis raus.« Stefan zog die blaue Plastikkarte aus seiner Jackentasche und hielt sie dem Kollegen hin, was dieser mit einem stummen Nicken quittierte.
Stefan parkte die BMW direkt vor dem Besucherzentrum. Am Eingangstor standen zwei junge Polizisten, die Stefan nach Kontrolle seines Dienstausweises passieren ließen.
»Wer hat denn hier heute das Sagen?«, fragte Stefan Braun den kleineren der Beiden.
»Hauptkommissar Feldmann. Das ist der Lange dahinten«, er deutete mit dem Zeigefinger auf einen schlaksigen Typen von bestimmt zwei Metern, »mit den wenigen Haaren und der roten Mappe unterm Arm.«
Stefan bedankte sich und lief direkt auf den Zwei-Meter-Mann zu. Die Feuerwehr hatte einen Lichtmast-Anhänger aufgestellt, mit dem das gesamte Areal taghell erleuchtet wurde. Es wimmelte nur so, von in weiße Overalls gehüllten Menschen. Hier waren bestimmt an die fünfundzwanzig Kollegen im Einsatz.
»Herr Feldmann?« Sah er aus der Ferne einfach nur groß aus, musste Stefan aus der direkten Nähe feststellen, dass Dirk Feldmann ein echter Riese war. Für einen kurzen Moment kam ihm in den Sinn so etwas zu sagen, wie na, wie ist die Luft da oben? Aber ihm war klar, dass das abgedroschen und albern war.
»Der Kollege aus Essen, nehme ich an?«
»Richtig. Stefan Braun.«
»Dirk Feldmann.« Der Riese reichte ihm eine Hand, so groß wie eine Bratpfanne zur Begrüßung und führte Stefan zu dem Pavillon, der über der abgedeckten Leiche aufgebaut war.
»Darunter«, begann er Stefan Braun in die Lage einzuweisen, »liegt unser junger Kollege Kai Winkelmann.«
»Soll ich nicht auch noch so ein schickes, weißes Dress überziehen?«, wies Stefan darauf hin, dass er noch keine Schutzkleidung trug.
»Nicht nötig«, entgegnete Dirk Feldmann. »Die Spusi ist schon fertig. Und damit sind wir dann auch schon bei der Besonderheit dieses Falls.« Dirk Feldmann zog die Decke zur Seite, die den nackten, völlig verrenkt, bäuchlings auf dem Boden liegenden Körper bedeckte. »Der junge Kollege ist nicht nur splitterfasernackt, es befinden sich auch, von dem ganzen Blut mal abgesehen, keinerlei Spuren an ihm. Der Doc meint der Täter hätte ihn mit einer Art Desinfektionsmittel gewaschen, bevor er von da ganz oben«, er deutete zum Dach des Gasometers »herunter gefallen sei.«
Stefans Blick folgte Feldmanns Zeigefinger.
»Das ist aber ganz schön hoch. Das sind doch bestimmt an die hundert Meter.«
»Einhundertachtzehn«, tönte eine Stimme hinter ihm. »Ich hab’s gegoogelt.«
»Das ist Herr Heering, unser Neuer«, stellte Stefan seinen Kollegen vor, der auch zum Gasometer bestellt worden war. »Herr Feldmann leitet die Ermittlungen hier vor Ort.«
»Hat geleitet«, korrigierte Claas. »Das machen wir ja jetzt.« Er drehte sich zu Dirk Feldmann um und reichte ihm die Hand. »Kriminalkommissar Claas Heering, Kripo Essen. Und wie ist die Luft so, bei Ihnen da oben?«
Dirk Feldmanns rechte Pranke umschloss Heerings ausgestreckte Hand einmal vollständig und dann drückte er kräftig zu. Claas Heering biss sich auf die Unterlippe.
»Sehr angenehm«, antwortete Feldmann.
Stefan Braun versuchte die Peinlichkeit der Situation aufzulösen: »Und woher wissen wir, dass es einen Täter gab und er nicht freiwillig gesprungen ist?«
»Auf dem Dach«, wieder zeigte die riesige Hand gen Himmel, »haben wir Spuren von diesem Reinigungsmittel gefunden. Und Fußabdrücke und Schleifspuren, die eine eindeutige Sprache sprechen. So, wie es da oben aussieht, suchen wir eine eher kleine, leichte Person.«
»Eine Frau eventuell?«
»Wenn sie kräftig genug ist einen ausgewachsenen Mann über die Brüstung zu hieven, vielleicht auch eine Frau.«
»Können es nicht auch mehrere Täter gewesen sein?«, fragte Claas dazwischen.
»Die Spusi sagt ganz klar nein.«
»Und was hat unser Toter hier mitten in der Nacht nackt getrieben?«, nahm Stefan den Gesprächsfaden wieder auf.
»Wir nehmen mal stark an, dass er noch bekleidet war, bevor er hier auf seinen Mörder oder seine Mörderin getroffen ist. Der Täter wird die Kleidung mitgenommen haben. Vermutlich um Spuren zu vernichten. Der Kollege Winkelmann hat sich was dazuverdient. Als Wachmann. Sein Patroullienwagen ist weg. Den dürfte der Täter für die Flucht benutzt haben.«
Stumm blickte Stefan Braun in den dunklen Nachthimmel.
»Mir ist gerade so«, unterbrach er sein Schweigen, »als hätte ich neulich noch von einer Geschichte gehört, wo eine Frau ihre Liebhaber umgebracht hat und die Tatorte ohne jegliche Spuren hinterlassen hat.«
Dirk Feldmann sah ihn fragend an.
»Wenn wir nicht genau das hier hätten, würde ich sagen, dass muss ein Film gewesen sein.«
»Nee.« Stefan massierte sich mit beiden Händen den Hinterkopf, als würden dadurch verschüttete Gedanken zurück ins Bewusstsein befördert. »Das war kein Film. Da haben wir mit Kollegen... Na sicher! Die neue Chefin der Spusi hatte das in ihrer alten Dienststelle.«
Stefan ließ sich von der Leitstelle mit Hauptkommissarin Anja Steffens verbinden, die am Telefon mindestens so verschlafen klang, wie Stefan selbst, als er geweckt wurde.

»Ach du scheiße! Ich komme sofort!«, war Anja Steffens einziger Kommentar, als Stefan Braun ihr am Telefon kurz die Lage am Gasometer schilderte.
Jetzt stand sie im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Die eng anliegende Lederkombi verriet Stefan, dass sie sehr schlank war und Motorradfahrerin. Beides war ihm bislang nicht aufgefallen. Ihre kurzen, schwarzen Haare standen wild zerzaust in alle Himmelsrichtungen. [..]
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